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Westdeutscher Rundfunk KölnAppellhofplatz 150667 KölnPubertät –wenn Teenager ausrastenTel.: 0221 220-3682Fax: 0221 220-8676E-Mail: [email protected] um 21.00 Uhr imwdr FernsehenSkript zur wdr-Sendereihe Quarks & Co
InhaltInhalt4Teenies im Risikotest7Baustelle Gehirn11Der Werther-Effekt14Die Macht der Hormone17Lehrer unter Beobachtung20Hilfe für Eltern22LesetippsPubertätPubertät –wenn Teenager ausrastenManchmal sind sie wie von einem anderen Stern. Wie Aliens, die nur durch Zufall auf unsererErde gelandet sind – und sich hier alles andere als wohl fühlen. Wenn bei Teenagern die erstenPickel sprießen und die Stimme tiefer wird, dann stehen die Alarmsignale in Familien auf rot.Was passiert mit den Kindern, wenn sie auf einmal zu kleinen Monstern werden, die den Elternmit ihren Launen das Leben schwer machen?Was sorgt für das Chaos im Körper? Was spielt sich während der Pubertät im Gehirn ab undwie beeinflusst das die Persönlichkeit? Wie gehen Teenies und ihre Eltern mit denVeränderungen um? Quarks & Co begleitet Jugendliche auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben.Lange wurden allein die Hormone als Ursache für das merkwürdige Verhalten von Teenagernangesehen. Doch in zahlreichen Tests und Versuchen haben Wissenschaftler festgestellt: DasGehirn von Pubertierenden gleicht einer Baustelle. Es organisiert sich von Grund auf neu!Quarks & Co zeigt, was während der Pubertät im Gehirn passiert.Wissenschaftler vermuten, dass im Gehirn auch die Ursache für das oft draufgängerischeVerhalten von Jugendlichen zu finden ist. Wie risikobereit ein Jugendlicher ist, hängt von seinen Gefühlen ab und ob gleichaltrige Freunde dabei sind oder nicht. Quarks & Co hat einenamerikanischen Wissenschaftler besucht, der Jugendlichen ins Gehirn schaut, während sie imKernspintomographen Auto fahren.Herausgeber: Westdeutscher Rundfunk Köln; Verantwortlich: Öffentlichkeitsarbeit;Text: Hilmar Liebsch, Heike Rebholz, Eva Schultes, Tilman Wolff; Redaktion: ClaudiaHeiss; Copyright: wdr, Oktober 2008; Gestaltung: Designbureau Kremer & Mahler,KölnBildnachweis: alle Bilder Freeze wdr 2008 außer Titel: kleine Bilder v. l. n .r. –Rechte: dpa, mauritius, dpa, dpa Innenteil: S. 11 l. – Rechte: akg-images, S. 12– Rechte: picture-alliance, S. 18 / 19 l. – Rechte: Volker Ladenthin, Uni BonnKinder- und Jugendpsychiater sind sich einig: Die Pubertät gehört zu den schwersten Krisen,die ein Mensch in seinem ganzen Leben durchmachen muss. Das gilt nicht nur für die Teenies– auch ihre Eltern sind gestresst und verunsichert. Quarks & Co hat gefrustete Eltern besucht.Weitere Informationen, Lesetipps und Links finden Sie auf unseren Internetseiten.Klicken Sie uns an: www.quarks.de
Links:Professor Jason Chein erklärt dem 17-jährigenProbanden Matt den bevorstehenden VersuchMitte:Teile der Großhirnrinde sind aktiv, wenn wirrationale Entscheidungen treffenRechts:Der Kernspintomograph zeichnet auf, welcheRegionen des Gehirns während der simuliertenFahrt aktiv sindTeenies im RisikotestJugendliche suchen das Risiko – und Forscher wissen warum1.139 deutsche Jugendliche zwischen 15 und 25Jahren starben im Jahr 2007 bei Verkehrsunfällen.Das sind fast doppelt so viele Todesfälle wie in derAltersgruppe von 25 bis 35 Jahren. In dieserAltersgruppe starben im gleichen Zeitraum 656Menschen im Straßenverkehr. Jugendliche lebenimmer dann besonders gefährlich, wenn sie sicheigentlich am wohlsten fühlen: wenn sie unterFreunden sind. Dann lassen sich Jugendlicheschneller auf Gefahren ein, bei riskanten Sportarten oder im Straßenverkehr: Das Risiko einesschweren Autounfalls steigt, wenn Gleichaltrigemit im Auto sitzen. Auch Zigaretten, Alkohol oderDrogen konsumieren Jugendliche eher, wenn siemit Freunden zusammen sind.KernspintomographieDie Kernspin-Untersuchung oder Kernspintomographie wird wissenschaftlich korrekt als Magnetresonanztomographie (MRT) bezeichnet.Mit der MRT können Querschnittsbilder vom Inneren des Körpers hergestellt werden. Dabei kommt der Patient in ein starkes, gleichmäßigesMagnetfeld – die berühmte Röhre, in die man geschoben wird. Das Verfahren basiert auf der Schwingung von Wasserstoffatomen im Körper.Es bildet die Weichteile ab, nicht aber Knochen wie etwa ein Röntgenbild. Kernspin-Untersuchungen kommen daher in der Hirnforschungregelmäßig zum Einsatz. Im Gegensatz zum Röntgen belasten sie den4logisch und vorausdenkend sind. Doch wir entscheiden nicht immer rational; oft beeinflussenuns dabei Gefühle. Dann wiederum wird dieEntscheidung von einem emotionalen Netzwerkkontrolliert, das Hirnstrukturen wie zum Beispieldas sogenannte limbische System oder den Mandelkern beinhaltet. Je nachdem, welches der beidenNetzwerke überwiegt, sind unsere Entscheidungeneher rational oder von Gefühlen gesteuert. BeiErwachsenen hat normalerweise das rationaleSystem die Oberhand.Patienten nicht mit Strahlung.Auf einer Aufnahme des Kernspintomographen erkennt man zum Bei-Der Risikotest: Gas geben oder anhalten?spiel, wie stark Gehirnbereiche durchblutet sind und damit letztendlich,ob sie gerade aktiv sind oder nicht.An den amerikanischen Universitäten in Philadelphia und Princeton versuchen Professor JasonChein und seine Kollegen herauszufinden, was imGehirn Jugendlicher vor sich geht, wenn sie Entscheidungen treffen, alleine oder im Beisein vonFreunden – und zwar mit Hilfe eines Kernspintomographen.Teenies im RisikotestNeuronale Netzwerke konkurrierenWenn man eine Entscheidung trifft, ist im Gehirnvor allen Dingen das sogenannte kognitive Netzwerk aktiv. Es umfasst mehrere Teile der Großhirnrinde und sorgt dafür, dass unsere EntscheidungenDie amerikanischen Psychologen testen das Risikoverhalten von Jugendlichen und Erwachsenenbei einem simulierten Fahrtest im Kernspintomographen. Dieses Gerät zeichnet auf, welche Hirnregionen während der Simulation besonders starkdurchblutet, und somit aktiv, sind. Bei dem Videospiel geht es darum, möglichst schnell ans Ziel zugelangen. Dabei können die Testpersonen an mehreren Ampeln entscheiden, bei Rot anzuhaltenoder die Kreuzung zu überfahren und dabei einenUnfall zu riskieren.Emotionen auf dem BildschirmWenn Jugendliche alleine sind, entscheiden sie genauso wie Erwachsene. Doch sind Freunde anwesend, fahren sie aggressiver und bauen mehr Unfälle. Erwachsene hingegen lassen sich kaumbeeinflussen wenn Andere dabei sind. Ihr Fahrverhalten ändert sich kaum; es ist sogar so, dassErwachsene eher etwas vorsichtiger fahren, wennsie beobachtet werden.Die Aufnahmen des Kernspintomographen bestätigen diese Beobachtungen: Bei Anwesenheit derFreunde ist das emotionale Netzwerk bei Jugendlichen stärker aktiv, bei Erwachsenen hingegensind Teile des kognitiven Netzwerkes involviert.Beide Nervensysteme, das kognitive wie auch dasemotionale, sind während der Pubertät noch nichtausgereift. Das emotionale Netzwerk ist im Beisein der Freunde überaktiv und kann noch nichtausreichend von dem heranreifenden kognitivenSystem kontrolliert werden. Deshalb sind Entscheidungen von Jugendlichen oft irrational.5
Teile des emotionalen Netzwerkes sind bei Jugendlichenstark aktiviert – besonders wenn ihre Freunde zusehenTeenies im RisikotestWas Eltern also längst wissen, nämlich dassJugendliche zusammen mit ihren Freunden verrückte Sachen machen, konnten die PrincetonerForscher mit ihrem Experiment tatsächlichbestätigen.Was tun?Für Jason Chein erklären diese Ergebnisse auch,weshalb Aufklärungsprogramme, die Jugendlichevor Gefahren zum Beispiel von Drogen oder ungeschütztem Sex bewahren sollten, bislang nichterfolgreich waren. Es fehlt den Jugendlichen nichtan Wissen oder Information. Laut Professor Cheinmüssen wir akzeptieren, dass Jugendliche nun einmal impulsiv reagieren, solange, bis beide Netzwerke vollständig entwickelt sind.Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass manJugendliche am besten vor gefahrvollen Situationen schützt, indem man den Einfluss der eigenen Freunde minimiert: Beispielsweise gibt es ineinigen Staaten der USA, in denen Jugendliche6bereits mit 16 Jahren Auto fahren dürfen, einGesetz, das es Minderjährigen verbietet mitGleichaltrigen zu fahren. Andererseits könnenFreunde oder Freundinnen auch positiven Einflussausüben, was man sich in Niedersachsen zunutzemacht. Dort gibt es seit 2004 die Aktion Schutzengel: Jugendliche sollen von ihren Freundinnennach Alkohol- oder Drogenkonsum vor dem Autofahren gewarnt werden. Die Initiative scheinterfolgreich zu sein, denn die Zahl der schwerenUnfälle ist in dieser Region bereits gesunken.Was macht Jugendliche so merkwürdig?Schalten sie ihr Gehirn einfach ab – wie manchmalbehauptet wird?Baustelle GehirnBaustelle GehirnWarum Teenager so merkwürdig sindLange hat man geglaubt, dass die Sexualhormone für die merkwürdigen Verhaltensweisen vonJugendlichen verantwortlich sind. Heute sind Forscher überzeugt, dass in der Pubertät im gesamten Gehirn ein vollständiger Umbau erfolgt. Erstlangsam beginnen die Wissenschaftler, die Prozesse im Gehirn von Jugendlichen zu entschlüsseln.Manchmal erscheinen sie wie Wesen von einemanderen Stern – Aliens, die nur durch Zufall aufunserer Erde gelandet sind. Sie haben merkwürdige Gewohnheiten, plötzliche Gefühlsausbrücheund oft sind auch ihre Interessen für Erwachsenekaum zu verstehen. Früher machte man Sexualhormone dafür verantwortlich. Die lösen im Altervon acht bis zehn Jahren zwar die Pubertät aus, siesind es aber nicht allein, die die Jugendlichen inWallung bringen. Seit einigen Jahren machenWissenschaftler Umbauprozesse im Gehirn derJugendlichen für deren Verhalten in der Pubertätverantwortlich.Von hinten nach vorneBis zum Beginn der Pubertät funktioniert dasGehirn sehr zuverlässig. Je nach Anforderung bildet es neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die sogenannten Synapsen. Mit Hilfe derSynapsen bildet das Gehirn verzweigte Netzwerkezwischen seinen Zellen. Diese Zellnetzwerkebauen sich immer weiter auf: Wenn bestimmteVerbindungen häufig gebraucht und genutzt werden, verstärken sie sich. Das heißt: Die Anzahl derSynapsen in diesem bestimmten Zellnetzwerkerhöht sich. In den Gehirn-Netzwerken werdenErfahrungen, Vorlieben, Gelerntes und Erinnerungen verarbeitet und gespeichert – von frühesterKindheit an.Schon während der Babyjahre saugt das Gehirnalle Informationen, die es über seine Sinnesorgane bekommt, gierig auf und legt sie in denersten Netzwerken ab. Die Verbindungen, die7
Der Umbau im jugendlichen Gehirn findet vonhinten nach vorne statt: Zuerst werden Kleinhirnund der motorische Komplex umgebaut. Am Schlusswird der präfrontale Cortex neu gestaltetIn den Netzwerken der Nervenzellen werdenErfahrungen, Vorlieben, Gelerntes und Erinnerungenverarbeitet und gespeichertBaustelle Gehirnwichtig sind und häufig genutzt werden, verstärken sich. Wissenschaftler sprechen hier von dersogenannten Bahnung: Einige Verbindungenzwischen den Zellen werden so stark aufgebaut,dass die Informationen auf ihnen superschnellweitergeleitet werden – wie auf einer Autobahn.Zu Beginn funktioniert dieser Prozess des GehirnAufbaus eher automatisch, später zeigen sich inder Stärke der jeweiligen Netzwerke im Gehirnauch die individuellen Vorlieben und Interessen:Die Gehirn-Netzwerke, die Informationen von alldem verarbeiten, was wir gerne und mit großerMotivation tun, werden stärker ausgebaut undbekommen sozusagen Vorfahrt in unserem Gehirn– auf einer eigenen starken Bahn.Zu Beginn der Pubertät nehmen diese SynapsenVerbindungen rasant zu – nur um sich kurze Zeitspäter wieder zurückzubilden: Nervenverbindungen, die nicht gebraucht werden, werden stillgelegt.Dieser Prozess erfasst das gesamte Gehirn derTeenager – allerdings nicht überall zur gleichenZeit. Die Reifung des Gehirns erfolgt von hinten8nach vorne – vom Kleinhirn bis zum Stirnlappen.Und das hat Folgen: Denn dieser Teil des Gehirns, der präfrontale Cortex, ist zuständig fürPlanung, für Risikoabschätzung und für Bewertungen. Während dieser Apparat im Umbau ist,haben Jugendliche Probleme, sich rational zuentscheiden.Bei ihren Entscheidungen greifen die Teenagerdeshalb auf ein anderes Areal im Gehirn zurück:die Amygdala. Eigentlich ist die Amygdala Teildes sogenannten limbischen Systems im Gehirnund verarbeitet und reguliert Gefühle – wie Angstoder Wut. Jetzt funkt sie jedoch dem überlastetenStirnlappen dazwischen. Einige Forscher glaubensogar, dass die Amygdala die Arbeit des Stirnlappens teilweise übernimmt. Die Entscheidungen,die das Teenagergehirn treffen muss, sind daheralles andere als vernunftorientiert.Präfrontaler CortexLimbisches SystemDer präfrontale Cortex oder Stirnlappen wird als oberstes Kontroll-Das limbische System gilt als ein Teil des Gehirns, der bei derzentrum des Gehirns angesehen. Hier werden die Signale aus derVerarbeitung von Emotionen und bei der Entstehung von Triebver-Außenwelt mit bereits gespeicherten Gedächtnisinhalten und emotio-halten eine Rolle spielt. Allerdings werden dem limbischen System auchnalen Bewertungen abgeglichen und nach den richtigen Hand-intellektuelle Leistungen zugesprochen. Zu diesem System zählt nebenlungsmöglichkeiten gesucht. Der Stirnlappen startet dann die – je nachden Mandelkernen (Amygdala) auch der Hippocampus, der die Ver-Situation – angemessenene Handlung. Gleichzeitig reguliert er diearbeitung und Abspeicherung von Wissen (Gedächtnis) steuert. Früheremotionalen Prozesse im Gehirn – wie eine Art Supervisor.wurde beispielsweise triebhaftes Verhalten allein auf die Funktion deslimbischen Systems zurückgeführt. Heute wissen die Forscher, dassAmygdalaauch andere Teile des Gehirns einen wesentlichen Einfluss auf daslimbische System nehmen können. Die Entstehung von Emotion undDie Amygdala wird auch als Mandelkern bezeichnet und ist Teil desTriebverhalten wird eher als Zusammenspiel vieler Gehirnanteile ge-sogenannten limbischen Systems. Das Gehirn verfügt auf jedersehen und wird heute nicht mehr dem limbischen System allein zuge-Hirnseite über eine Amygdala. Die Mandelkerne liegen tief im Innerensprochen.des Gehirns. Sie sind wesentlich an der Entstehung von Angst beteiligt undspielen allgemein eine wichtige Rolle bei der emotionalen Bewertungund Wiedererkennung von Situationen sowie der Analyse möglicherDie Belohnung kommt späterGefahren. Eine Zerstörung beider Mandelkerne führt zum Verlust vonFurcht- und Aggressionsempfinden und so zum Zusammenbruch dermitunter lebenswichtigen Warn- und Abwehrreaktionen.Auch das sogenannte Belohnungssystem desjugendlichen Gehirns funktioniert anders als beiKindern und Erwachsenen. Wenn sich das Gehirnselbst belohnt – nach erfolgreichem Lernen oder9
Links:Wenn sich das Gehirn selbst belohnt, wird von bestimmtenSynapsen der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet. DasDopamin gibt dem Gehirn ein positives Gefühl. Bei Teenagernscheint auch dieser Mechanismus außer Kontrolle zu seinMitte:Der Selbstmord des Romanhelden Werther war Vorbild fürviele junge MännerRechts:Kult! Zur Tee- und Kaffeestunde gehörten Werther und LotteBaustelle Gehirngeglückten Aktionen etwa – wird Dopamin ausgeschüttet. Doch dieses System spielt verrücktund die Teenies suchen immer stärkere Kicks.Unklar ist, ob dabei zu viel oder zu wenig Dopaminim Spiel ist. Fehlt das Dopamin, gibt es keineBelohnung. Ist zu viel davon da, ist das Systemgesättigt. Auch dann fehlt der richtige Anstoß undjede Motivation.Der Umbau im Gehirn ist für ein weiteres Phänomen verantwortlich: Im jugendlichen Gehirn wirddas Schlafhormon Melatonin mit bis zu zweiStunden Verspätung ausgeschüttet – deshalbkommen die Teenies abends so schwer ins Bett –und sind morgens noch schwerer wieder herauszubekommen.Die Pubertät ist eine schwierige Zeit fürs Gehirn –doch der große Umbau hat ein klares Ziel: Zumersten Mal nehmen die Teenager mit ihrenInteressen und Vorlieben selbst Einfluss darauf,wie sich ihr Gehirn entwickelt. Denn nach den indi-10viduellen Interessen werden jetzt neue Nervenzellverbindungen aufgebaut, neue Bahnen im Gehirnentstehen und entwickeln sich zu Netzwerken.Und auf diese Netzwerke werden sie auch nochzurückgreifen, wenn sie längst keine pubertierenden Teenager mehr sind.Der Werther-EffektDer Werther-EffektKönnen Medien Selbstmordfälle fördern?Goethes WertherEnde des 18. Jahrhunderts verfasste JohannWolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werther.Goethes zweiter großer Erfolg schildert in seinem1774 erschienenen Roman die Liebe des jungenRechtspraktikanten Werther zu der ihm unerreichbaren jungen Frau Lotte. Sie ist einem anderen versprochen. Als Werther erkennt, dass Lotte ihn zwarliebt, sie diese Liebe jedoch niemals leben können, erschießt er sich.Kult um WertherDie Leiden des jungen Werther wird zum Bestseller. Vor allem Jugendliche sind damals einemregelrechten Werther-Fieber verfallen. Es gabinfolge des Romans eine Werther-Mode, die demHelden nacheiferte. Die sogenannte Werther-Tassegehörte bald in jeden bürgerlichen Haushalt. Dochniemand erwartete die Schattenseite des Kults:Werthers Selbstmord wurde in ganz Europa jungen Männern zum Vorbild.Die moderne Forschung entdecktden Werther-EffektIm 20. Jahrhundert verwendete der amerikanische Soziologe David Philips das erste Mal denBegriff des Werther-Effekts. Er wertete systematisch die Selbstmordrate nach dem Bekanntwerden prominenter Suizide aus. Er fand eineeinfache Regel: Je länger über den Selbstmord inden Medien berichtet wurde, um so stärker istder Anstieg an Suiziden in der Allgemeinbevölkerung. Nach Marilyn Monroes Tod war dieZahl von Selbstmorden besonders hoch: Nochvier Tagen nach ihrem Tod durch eine ÜberdosisSchlafmittel war sie in den Schlagzeilen. Im gleichen Zeitraum zählte man 198 Suizidfälle mehrals sonst. Aber es sind nicht nur Prominente, dieNachahmer finden. Im Jahr 1981 lief im deutschenFernsehen die Serie Tod eines Schülers. In demdokumentarisch gehaltenen Film wird erzählt,wie der Oberstufenschüler Claus Wagner durchverschiedene Umstände in den Selbstmord getrieben wird. Die Zahl der Suizide von Schülern imgleichen Alter (15-19 Jahre) stieg danach signifikant11
Marilyn Monroe. Je berühmter die Person, um so größer istdas Risiko, dass ihr Tod Nachahmer findet. Eine statistischeUntersuchung ergab, dass die Selbstmordrate in den USAnach dem Tod von Marilyn Monroe um 198 Fälle stiegKurt Cobain. Der Rockmusiker beging am 5. April 1994Selbstmord. Dank Aufklärung blieb der Werther-Effekt ausDer Werther-Effektan. Trotz Warnungen von Experten wurde die Serieknapp zwei Jahre später wiederholt. Der WertherEffekt wiederholte sich.Den Tod im KopfJugendliche haben naturgemäß andere Interessenals Erwachsene. Auch ist ihre Sicht der Dinge gänzlich anders. Vieles hat in der Phase des Erwachsenwerdens einen anderen Stellenwert. Auch derTod. So ist es kein Wunder, dass der Gedanke anSelbstmord bei vielen Jugendlichen eine Rollespielt: Allein in Deutschland wird die Zahl derSuizidversuche junger Menschen unter 24 Jahrenauf über 15.000 geschätzt. Pro Jahr; das heißt allehalbe Stunde versucht ein junger Mensch sichumzubringen! Auch wenn es klischeehaft klingt. Inder Vielzahl der Fälle stammen die Kinder aus zerrütteten familiären und sozialen Verhältnissen. Ofthaben sie niemanden, dem sie sich anvertrauenkönnen. So scheint es wie ein Wunder, dass dieSelbstmordrate unter Kindern und Jugendlichenniedriger liegt als in anderen Altersgruppen. Dennanders als für Erwachsene ist der Selbstmord12beziehungsweise der Versuch sich umzubringenfür Jugendliche in der Regel ein Hilferuf. So alswollten sie sagen: „Seht her, ich bin bereit michselbst zu töten, wenn sich nichts ändert!“. SindJugendliche in solch einem labilen Zustand,erscheint es plausibel, dass sie einem Vorbildnacheifern. Deshalb sind Berichte über Suizide inden Medien besonders brisant.Der Fall Kurt CobainVor dem Hintergrund, dass der Werther-Effekt sehrgut belegt ist, reagierten Behörden und Elternbesorgt, als 1994 der Selbstmord des Rockmusikers Kurt Cobain bekannt wurde. Der Sängerund Gitarrist der Grunge-Rock-Band Nirvana wareine Ikone der Rockmusik und Vorbild zahlreicherTeenager. Die Psychologen damals wussten – aufsuizidgefährdete Jugendliche kann die Tat ansteckend wirken. Sie fürchteten eine Welle vonSelbstmorden ähnlich wie nach dem Tod MarilynMonroes. Sie setzten alles daran, um im Falle desRockstars den Werther-Effekt zu verhindern: Beider öffentlichen Trauerfeier im Park von Seattle,dem Heimatort Cobains, forderte der Leiter derörtlichen psychiatrischen Klinik die Fans dazu auf,gemeinsam zu trauern und einander zu trösten.Die Medien handelten richtig und verherrlichtenim Nachhinein den Rockstar nicht, der für Alkoholund Drogenexzesse bekannt war, sondern zeigten, dass sein Selbstmord ein dummer Akt war.Die Witwe Cobains, Courtney Love, betrauerte ineiner veröffentlichten Tonbandaufnahme erstihren Mann, um ihn dann wegen seiner Tat zubeschimpfen. Auch wurde das Bild des grauenhaft zerstörten Gesichts Cobains veröffentlicht.So kam es, dass im Fall von Kurt Cobain derWerther-Effekt ausblieb. Interessant übrigens,dass auch Goethe versuchte, den Werther-Effektin späteren Auflagen seines Romans mit einemVorwort zu verhindern.13
Links:Die meisten Mädchen haben heutzutage mit 13 bereits ihreerste Regelblutung. Meist wiegen sie dann rund 50 KilogrammMitte:Bei Jungen beginnt die Pubertät im Durchschnitt später als beiMädchen. Als erstes wachsen die HodenRechts:Die Hormone LH und FSH gelangen mit dem Blut aus demGehirn zu den Hoden bzw. Eierstöcken und kurbeln hier dieProduktion der Sexualhormone anDie Macht der HormoneWie aus Kindern Erwachsene werdenSie dauert zwei bis vier Jahre. Für Eltern undKinder kann sie immer wieder die Hölle bedeuten,aber eins ist sicher: Durch die Pubertät muss jederdurch. Allerdings ist sowohl Beginn als auch Dauerder Pubertät von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Bei Mädchen beginnt sie mit derKnospung der Brust. Die meisten sind dann etwazehn Jahre alt. Die Mädchen schießen nun in dieHöhe. Becken und Hüfte werden breiter. Schamhaare wachsen und etwas später die Achselhaare.Auch die inneren Geschlechtsorgane verändernsich: Die Scheidenwand wird dicker, die Gebärmutter wächst, Eizellen reifen. Schließlich kommtes zur ersten Regelblutung. Vor 150 Jahren warendie Mädchen dann durchschnittlich knapp 17 Jahrealt; heute sind sie knapp 13. Der Grund: bessereErnährung und ein besserer allgemeiner Gesundheitszustand. Die Kinder wachsen heute schnellerund nehmen früher an Gewicht zu. Die Fettzellenproduzieren ein Hormon, das den Eintritt der Regelbei Mädchen begünstigt. Das ist sinnvoll, da Fettreserven für eine Schwangerschaft wichtig sind.Übergewichtige Mädchen bekommen daher ihreTage meist früher als untergewichtige.14Die Entwicklung der JungenBei Jungen ist das erste äußere Anzeichen derPubertät, dass ihre Hoden wachsen. Meist sind siedann schon etwas älter als die Mädchen: elf biszwölf Jahre. Auch Jungen haben nun einen kräftigen Wachstumsschub. Die Schamhaare erscheinen, der Penis wird größer, Körperhaare und Oberlippenflaum beginnen zu sprießen. Der Kehlkopfwächst. Dadurch wachsen auch die Stimmbänder,sie werden länger und breiter. Sie vergrößern sichaber nicht gleichmäßig, weshalb die Stimme während dieser Zeit manchmal komisch klingt: derStimmbruch. Die vordere Wand des Kehlkopfs, derSchildknorpel, wächst nach vorne, der Adamsapfelbildet sich. Mit etwa 15 Jahren haben die meistenJungen ihren ersten Samenerguss erlebt.Im Gehirn fängt alles anDie Vorbereitung auf die Pubertät beginnt bei Mädchen und Jungen im Alter von ungefähr 8 Jahren,wenn die Kinder noch gar nichts davon merken.Die Macht der HormoneDer Startschuss für all die Veränderungen fällt imGehirn, und zwar im Hypothalamus, der Region,die im Gehirn für die Steuerung des Hormonsystems verantwortlich ist. Hier produzieren Nervenzellen das Protein Kisspeptin. Warum sie damitplötzlich beginnen, das weiß man noch nicht.Kisspeptin bewirkt die Ausschüttung des sogenannten Gonadotropin-Releasing-Hormons. Esstimuliert die Hypophyse, die direkt am Hypothalamus hängt, und sie beginnt mit der Bildung zweier weiterer Hormone: das sogenannte luteinisierende Hormon (LH) sowie das follikelstimulierende Hormon (FSH). Sie gelangen nun bei Mädchenund Jungen in den Blutkreislauf und stoßen diekörperlichen Veränderungen an.Hypothalamus und HypophyseDer Hypothalamus ist die Verbindung zwischen Körper und Gehirn. Erliegt im unteren Bereich des Zwischenhirns und ist bei der Steuerungvieler körperlicher und psychischer Vorgänge von lebensnotwendigerBedeutung. Zellen im Hypothalamus erhalten Botschaften vonGehirnzellen, die den Hypothalamus veranlassen, Hormone in dieHypophyse auszuschütten, die direkt unterhalb des Hypothalamus liegt.Die Hypophyse produziert daraufhin wiederum Hormone, die dannauch über den Blutkreislauf im Körper verteilt werden können.Hypophyse und Hypothalamus sind somit Bindeglied zwischenNervensystem und Hormonsystem.Der Kreislauf der HormoneDiese beiden Hormone, LH und FSH, wirken in denKeimdrüsen der Kinder: den Hoden und Eierstöcken. Zum einen sorgen sie dafür, dass Eizellenreifen und Samenzellen produziert werden, zumanderen kurbeln sie die Produktion der Sexualhormone an: Östrogene und Testosteron. Unter ihremEinfluss beginnt nun die körperliche Veränderungder Kinder.Die Konzentration der Sexualhormone im Blutsteigt während der Pubertät an. Sie wird immerwieder an die Hypophyse im Gehirn gemeldet.Solange der endgültige Level nicht erreicht ist,werden dort vermehrt Hormone ausgeschüttet. Istschließlich die Konzentration so hoch wie beieinem Erwachsenen, wird die Hormonproduktionim Gehirn wieder gedrosselt. Ein Gleichgewichtpendelt sich ein.15
Der Bonner ErziehungswissenschaftlerProf. Volker Ladenthin beobachtete neun Jahrelang regelmäßig den Unterricht in einerSchulklasse und zeichnete ihn auf Video aufDas nervt junge Menschen besonders: PickelDie Macht der HormoneSexualhormone fördern die Produktion vonWachstumshormonen, deshalb kommt es während der Pubertät zu starken Wachstumsschüben.Anschließend verschließen die Hormone, hauptsächlich die Östrogene, die Knochenfugen, sodass man nach der Pubertät nicht mehr sehr vielwächst.Die Sexualhormone beeinflussen auch die Haut.Sie regen die Talgdrüsen an. Die Poren werdengrößer. Bakterien können sich hier einnisten.Pickel entstehen. Doch mit der Zeit gewöhnt sichdie Haut an die Veränderung.16Lehrer unter BeobachtungLangzeitprojekt der Uni BonnLehrer unter .Zweimal im Jahr, von der fünften Klasse bis zumAbitur, tauschte eine Klasse des Jungengymnasiums Collegium Josephinum Bonn ihren Klassenraum gegen einen Beobachtungsraum in derBonner Universität. Der Raum sieht aus wie einnormales Schulzimmer, allerdings sind die Fensterabgedunkelt, Kameras und Mikrofone hängen ander Decke und hinter verglasten Sehschlitzen inden Wänden befinden sich, für die Schüler nicht zuerkennen, weitere Kameras. Projektleiter ProfessorVolker Ladenthin, Erziehungswissenschaftler ander Universität Bonn, zeichnete hier von 1997 bis2006 insgesamt 36 Unterrichtsstunden auf. Insgesamt entstanden so rund 180 Stunden Film.„Das besondere ist, dass wir die gleichen Kinder inverschiedenen Entwicklungsstufen sehen“, meintVolker Ladenthin. „Und man kann hier an ein- undderselben Klasse sehr schön sehen, welchesLehrerverhalten zum Erfolg führt und welchesVerhalten zu Misserfolg führt.“ Und das hängesehr vom Alter der Kinder ab.Die Kleinsten lieben den Kumpeltyp„Für Unterstufenschüler ist die Schule die Verlängerung ihres Alltags. Sie wollen sich mit ihremAlltag in die Schule einbringen. Sie reagieren ganzspontan, so als wenn es ganz alltäglich wäre. Undsie werden auch Dinge berichten, die sie gar nichtgefragt worden sind, weil sie einfach ein Bedürfnishaben, ihren Alltag in die Schule hineinzubringen“, erläutert Volker Ladenthin. Für die Lehrerheißt das: „Sie müssen sich auf die Eigenschaftender Unterstufenschüler einstellen, das heißt auf ihreErlebnisbereitschaft, auf ihre Erwartung, dass etwasganz Spannendes passiert.“ Der Lehrer solle jetztein Kumpeltyp sein, ein Abenteurer, so Ladenthin,„der auch durch die Körpersprache deutlich macht:Ich gehöre zu euch, der die Schüler unmittelbaranspricht, sich in die Schülergruppe integriert. Ersteht mitten in der Klasse, fordert die Schüler zuHandlungen auf, zum Erkennen auf. Das ist danndas Lernen als Abenteuer des Erkennens.“17
Links:Wenn die Kleinen sich im Unterricht langweilen, ist die Aufmerksamkeit bald nicht mehr auf den Lehrer, sondern zumBeispiel auf den Nachbarn gerichtetMitte:Dieser Junge sieht zwar aus, als würde er träumen, aberdas muss nicht der Fall sein. Pubertierenden kann man amGesicht nicht mehr ansehen, ob sie aufpassen oder nichtRechts:Aus den Jungen sind erwachsene Männer gewordenLehrer unter BeobachtungWenn der Lehrer allerdings die Kinder nicht altersgemäß anspricht oder Themen zu allgemein behandelt, so dass sie die Kinder nicht betreffen,dann fangen sich die Kleinen schnell an zu langweilen und beschäftigen sich schließlich mit anderen Dingen. Dabei spielt auch die Körperspracheeine wichtige Rolle: Ein Lehrer, der mitten in derKlasse steht, sich auch mal zu Kindern hinunterbeugt, kann die Unterstufenschüler besser erreichen als einer, der distanziert und lässig mit denHänden in der Tasche vorne am Pult lehnt.Dominanz ist wichtig in der Pubertät„Ganz anders ist das in der Pubertät. Dort entwickeln sich Persönlichkeiten. Die Kinder verstecken sich hinter Masken, man legt sein Herznicht mehr offen zutage, man versteckt sich, mansetzt ein Pokerface auf. Und der Lehrer ist nichtmehr in der Lage, an dem Verhalten der Schüler zuerkennen, wie sie am Unterricht teilnehmen. Dasirritiert viele Lehrer.“ So beschreibt ProfessorLadenthin die Schüler der Mittelstufe, in den18Klassen 8 bis 10. Dies sei die Zeit des Machtkampfes: Die Schüler versuchen, selber die Regelnfür den Unterricht bestimmen. Der Lehrer alsKumpel ist jetzt nicht mehr gefragt, stattdessenmuss er nun Dominanz zeigen. „In einer Stundeseien zwei Neuntklässler zu spät gekommen“,erzählt Ladenthin „mit großem Hallodri und wolltendie Regeln bestimmen. Der Lehrer ließ sich abernicht auf das Spiel ein.“ Der Lehrer reagierte ganzstreng: „Das ist eine
1.13 9 d e u tsch e Ju g e n d lich e zw isch e n 15 u n d 2 5 Jahr en starben im Jahr 2007 bei Verkehrsunf llen. Das sind fast doppelt so viele Todesf lle wie in der