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GastkommentarJunge WildeVON JOHANNES HÜBNERNAbg. Dr. Johannes Hübner ist außen- und europapolitischer Sprecher der FPÖ sowie Rechtsanwalt in Wien.30ZUR ZEIT 18/2016Bild: stratfor.comBild: Schneeweiß-ArnoldsteinDie kritische Haltung der Freiheitlichen zurEuropäischen Union und der von ihr zielstrebig verfolgten Aushebelung und Entmachtungder Nationalstaaten ist hinlänglich bekannt.Auch den diversen „Ost-Erweiterungen“ sindwir immer kritisch gegenüber gestanden. DasZwängen von Staaten in die EU, die sich – seies aus politischen, sei es aus ökonomischen Gründen – von denwesteuropäischen deutlich unterscheiden, hat uns zahlreicheProbleme beschert. Steigende Kriminalität sowie die Bettelei, diedurch eine Mafia organisiert wird, haben unerträgliche Zuständeerreicht, Billiglöhne und fragwürdige Dienstleistungen über dieGrenzen hinweg gefährden sowohl Arbeitsplätze als auch sozialeStandards als auch heimische Unternehmen. Das ist die eine Seiteder Medaille. Auf der anderen haben jedoch gerade die Staaten derVisegrad-Gruppe – also Ungarn, die Slowakei, Tschechien sowiePolen – den Apologeten des Multikulturalismus und diversen„Wir schaffen das!“-Zuwanderungsfanatikern in der jüngstenVergangenheit gehörigeDie Ex-Ostblockstaaten Lektionen erteilt.Die einst unter demlassen sich nicht vonJochder Sowjetunion geBrüssel bevormunden.knechteten Staaten desWarschauer Paktes sind nicht gewillt, sich nun von Brüssel vorschreiben zu lassen, wie sie sich dem Ansturm illegaler Migranten gegenüber zu verhalten haben. Anfänglich mögen eine proeuropäische Haltung und die Freude über die erhaltene Freiheit– sowie finanzielle Leistungen – für ein konformes Verhalten gesorgt haben, nun sind sie die einstigen Ost-Europäer den Kinderschuhen entwachsen, haben sie sich emanzipiert und abgenabelt,auch liegt ein Hauch von Rebellion in der Luft.Ebenso die aus dem sozialistisch-autoritären Jugoslawien – dasnicht zum Warschauer Pakt gehörte – hervorgegangenen Staatendes Westbalkans! In ihnen lebt teilweise ein jahrhundertealtesBewusstsein, Bollwerk gegen die Osmanen gewesen zu sein. Zugleich – das haben auch die Balkankriege in all ihrem Schreckengezeigt – gehört ein ausgeprägte Identifikation mit der Traditiondes eigenen Volkes zu den wesentlichen Merkmalen Kroatiensund Serbiens. Die Mazedonier haben wiederum jüngst bewiesen,dass sie den Willen und Mut haben, sich vehement und tatkräftiggegen die illegalen Migrationsströme zu stellen. Daher richte ichmeine Hoffnungen auch auf die Staaten des Westbalkans, dasssie, wie die Visegrad-Staaten, ein zukünftiger Partner gegen EUZentralismus, Meinungs- und Zuwanderungsdiktat der BrüsselerNomenklatura sind, Partner für ein Europa der Vaterländer, dasdie jeweiligen Traditionen hochhält und die Freiheit verteidigt.sindSerbien will in die EU,aber Kroatien blockiertdie Beitrittsverhandlungen. Die Wunden derZerfallskriege Jugoslawiens sind also nochlange nicht verheilt.Zudem belastet die Kosovo-Frage weiterhin dieBeziehungen zu Brüssel,während die USA Belgrad unter ihre Kuratelbringen möchten. Wichtigster Partner Serbiens, das als potentiellesTransitland von Energiestrategische Bedeutunghat, bleibt Russland.

Thema der WocheSerbien: Der Balkanstaat strebtin die EU und hat auf dem Wegdorthin viele Herausforderungenzu meisternAlte Wundend noch nicht verheiltVON BERNHARD TOMASCHITZMehr als 20 Jahre nach dem Abschluss des Daytoner Abkommenszur Beendigung der Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawienstehen sich die einstigen Kriegsgegner immer noch mit tiefemMisstrauen gegenüber. Kroatiensperrt sich gegen die Aufnahmedes Kapitels 23 (Justiz und Grundrechte) bei den EU-Beitrittsverhandlungen mit Serbien. Für seine Zustimmung verlangt Agramvon Belgrad die Erfüllung vondrei Bedingungen: Serbien müssevoll mit dem UNO-Kriegstribunalin Den Haag kooperieren, für einegarantierte Vertretung der kroatischen Minderheit im Parlamentsorgen und das Gesetz ändern, dasder heimischen Justiz eine universelle Zuständigkeit auch füraußerhalb des eigenen Territoriums begangene Kriegsverbrecheneinräume. Serbiens Ministerpräsident Alexsandar Vucic erklärte darauf hin, man werde nichtzulassen, „durch die RepublikKroatien, auf irgendeine Weiseerpresst, erniedrigt oder verachtetzu werden“.Mit dem Amtsantritt der neuen kroatischen Mitte-Rechts-Re-Serbien zeitweise schloss, wurdenzwischen Agram und Belgrad Unfreundlichkeiten ausgetauscht.Beunruhigt davon ist insbesondere die serbische Minderheit inKroatien. Sasa Milosevic vom Serbischen Nationalen Rat in Kroatien erklärt: „Die Erfahrung lehrtuns, dass die allerersten Opfereiner Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kroatien undSerbien die MinSeit dem Jahr 1991 hat sich derderheiten sind.“LautVolkszähAnteil der serbischen Minderheitlung von 2011 lein Kroatien mehr als halbiert.ben rund 186.000gierung unter Tihomir Oreskovic Serben in Kroatien, was einemEnde Jänner wurde der Ton in den Bevölkerungsanteil von 4,4 Proserbisch-kroatischen Beziehun- zent entspricht. 1991 umfasste diegen noch rauer. Bereits im vergan- serbische Minderheit in Kroatengenen Jahr, als Kroatien aufgrund noch etwa 400.000 Personen.der Masseneinwanderung überHauptursache für die Halbiedie Balkanroute die Grenze zu rung des serbischen Bevölke18/2016 ZUR ZEIT31

THEMA DER WOCHEweniger zur Versöhnung derfrüheren Kriegsgegner beiträgt,sondern eher neue Zwietrachtsät. Demnach wurden die kroatischen Kriegsverbrechen vomHaager Sondergerichtshof zwarwährend eines vier Jahre dauernden Verfahrens „umfangreichdokumentiert“, aber die Beweislage sei „nicht ausreichend“ gewesen, um die Polizei- und Armee-Bild: ard-wien.derungsanteils war die Operation„Sturm“ im August 1995, bei welcher die kroatische Armee mit militärischer Unterstützung der USAund anderer NATO-Staaten dieSerbische Krajina zurückerobernkonnte – und dabei auch Kriegsverbrechen verübte. Die Nachrichten-Internetseite „Balkan Insight“schrieb dazu im Vorjahr aus Anlass der 20-Jahr-Feiern der „Opera-Operation „Sturm“: Bedeutete 1995 für die Kroaten die Befreiung eines Teilsihres Territoriums, für tausende Serben aber Flucht und Vertreibungtion Sturm“ durch Kroatien: „Am4. und 5. August 1995 zwang dieintensive Bombardierung durchkroatische Streitkräfte tausendeZivilisten, vor dem Terror zu fliehen. Über anderthalb Tage feuertedie kroatische Armee rund 900 Geschosse allein auf Knin – die Stadtgalt als Hauptstadt der serbischenRebellen in Kroatien. Nachdemder Großteil der serbischen Zivilisten geflohen war, richteten kroatisches Militär und Polizei großangelegte Zerstörungen an undplünderten serbisches Eigentumund töteten nach Angaben deskroatischen Helsinki-Komitees677 hauptsächlich ältere Serben,die zurückgeblieben waren.“Der Bericht von „Balkan Insight“ macht auch deutlich, dassder „Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“, wie das Haager Kriegsverbrechertribunal offiziell heißt,32ZUR ZEIT 18/2016kommandanten der „OperationSturm“, Mladen Markac und AnteGotovina, zu verurteilen. Die beiden waren ursprünglich zwarzu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden, jedoch wurdendie Schuldsprüche von der Berufungsinstanz wieder aufgehoben.Vor allem Gotovina wird von vielen Kroaten als Held verehrt.Umgekehrt löste Ende März inKroatien der Freispruch VojislavSeseljs durch das Haager Tribunaleinen Sturm der Entrüstung auf.Dem serbischen Ultranationalisten war vorgeworfen worden,für die Kriegsverbrechen, die dievon ihm in den 1990er Jahrenaufgestellten Freiwilligenmilizenbegangen haben, verantwortlichzu sein.Gegenüber Serbien handleKroatien heute aus einer Position der Stärke heraus, wie derkroatische Politik-Analyst Zar-ko Puhovksi argumentiert. DerGrund liege darin, dass Kroatien–im Gegensatz zu Serbien – bereits EU-Mitglied ist: „Das brachteKroatien in eine derart dominante Stellung, dass logischerweisezu erwarten war, dass einer derPolitiker möglicherweise damitbeginnen würde, das zu nutzen.“Über Kroatien Druck auf Serbien auszuüben und sich dabei diehistorisch bedingten Spannungen zwischen den beiden Staaten zunutze zu machen, ist aberein Mittel für die USA, die vonihnen angestrebte NeuordnungSüdosteuropas voranzutreiben.Bekanntlich verfolgen die USAdas Ziel, alle Balkanstaaten – unddamit auch Serbien, den traditionellen Verbündeten Russlands– in „euro-atlantischen Institutionen“, also in EU und NATO,zu verankern. So ist die Staatspräsidentin Kroatiens, KolindaGrabar-Kitarovic, aufs engste mitden USA verbunden. Sie studiertein den Vereinigten Staaten, warvon 2011 bis 2014 stellvertretendeGeneralsekretärin der NATO undist obendrein Mitglied der Trilateralen Kommission, einer auf einerBilderberg-Konferenzgegründete Gruppe, die sich dem Zielverschrieben hat, die Umsetzungder von Wall Street und WeißemHaus forcierten „New World Order“ voranzutreiben.Ein großes Hindernis dabeiist Serbien, dessen Bürger einemBeitritt zum Nordatlantikpaktüberwiegend negativ gegenüberstehen. Grund ist der völkerrechtswidrige NATO-Krieg im Frühjahr1999, bei dem rund 2.500 Zivilisten getötet und weitere 10.000schwer verletzt wurden. Umgekehrt befürworten die Serbenenge Beziehungen zu Russland,was kürzlich bei einer Umfragedes serbischen „Zentrums für freieWahlen und Demokratie“ erneutbestätigt wurde. Darin sprachensich 71,6 Prozent gegen eine „serbische Mitgliedschaft in EU undNATO“ aus. Nur elf Prozent befür-

THEMA DER WOCHENicht immer einfacheNachbarschaft: SerbiensPremier Vucic und KroatiensPräsidentin Grabar-Kitarovic„20 Jahre können nicht alle Wunden heilen“Goran Bradic über serbisch-kroatische Spannungen, das Verhältnis Belgradszu EU und Russland sowie über die Zusammenarbeit in der FlüchtlingskriseBild: ZZ/ArchivKroatien blockiert die Eröffnung des Wir hoffen auf die Vernunft derKapitels 23 der EU-Beitrittsverhand- kroatischen Politiker und darauf,lungen Serbiens. Wie sind die ser- dass wir das Verhandlungskapitelbisch-kroatischen Beziehungen?Ende Juni eröffnen können. DieGoran Bradic: Kroatien blok- Beitrittsverhandlungen werdenkiert derzeit die Eröffnung des Ka- schwierig sein, vor allem auchpitels 23, obwohl kroatische Poli- wegen der Kosovo-Frage.tiker andere AusdrückeWas sind die Gründeverwenden, etwa, dassfür die Haltung Kroatiens?sie uns „helfen“ wolIst das vielleicht ein Anzeilen. Wir haben bis jetztchen, dass die Wunden derzwei VerhandlungskaZerfallskriege des ehemalipitel – Finanzkontrolgen Jugoslawien auch zweile und andere FragenJahrzehnte später noch– eröffnet, und wir hanicht geheilt sind?ben alle BedingungenBradic: Das ist einerfüllt, weshalb 27 EUheikles Thema. Vor kurGoran BradicStaaten der Meinungzem wurde vom Haagersind, dass Serbien Kapitel 23 eröff- Tribunal in erster Instand dernen soll. Kroatien blockiert also Freispruch des serbischen Poliund auch die EU-Kommission hat tikers Vojislav Seselj verkündet,festgestellt, dass die Bedingungen, und Kroatien war damit nicht zudie Kroatien stellt, bilateraler Na- frieden. Aber es gab auch Urteiletur sind und mit dem Beitritts- gegenüber kroatischen, moslemiverhandlungen nichts zu tun schen oder kosovarischen Politihaben. Kroatien hat versprochen, kern und Generälen, wo auch Sernicht das zu tun, was Slowenien bien sehr darüber enttäuscht war,seinerzeit gegenüber Kroatien dass die Prozesse nicht so ausgegemacht hat (Blockade der EU- gangen sind, wie wir das erwartetBeitrittshandlungen wegen des hatten. Allein die Tatsache, dassStreits über die Grenzziehung in Seselj fast zwölf Jahre lang in Dender Bucht von Piran, Anm.), und Haag war, bis ein Urteil gefälltjetzt versuchen wir mit unseren wurde, ist nicht gerade positiv.Freunden und Partnern in der EUZwanzig Jahre sind ein Zeitdieses Problem bilateral zu lösen. raum, in dem leider nicht alleWunden geheilt werden können,und manchmal passieren Dinge,die diese Wunden wieder aufbrechen lassen. Aber wir habenalle Urteile des Haager Tribunalsakzeptiert, ob wir nun damit einverstanden waren oder nicht. Wirhaben erwartet, dass das HaagerTribunal mehr in dem Sinne zurVersöhnung beitragen wird, dassalle Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden. Wirsind auch der Meinung, dass nichtalle bestraft worden sind, die eineStrafe verdient hätten.Ein Verbrechen war ja auch dieVertreibung Zigtausender Serben imRahmen der „Operation Sturm“ und„Operation Blitz“. Wie sieht heutedie Lage der serbischen Minderheitin Kroatien aus?Bradic: Das war die größteethnische Säuberung nach demZweiten Weltkrieg. Bei den militärischen Operationen wurdeninnerhalb weniger Tage alleinaus der Krajina mehr als 230.000Menschen vertrieben, aber auchaus West-Slawonien und anderenGebieten und Städten Kroatiens.Ein kleiner Teil ist zwar zurückgekehrt, aber diese Menschen haben immer noch Probleme, eineArbeit zu finden oder es gibt ethnisch motivierte Angriffe, etwa,18/2016 ZUR ZEIT33

THEMA DER WOCHEBild: euobserver.comwenn in einem Restaurant ein serbisches Lied gesungen wird. Oderes singen bei einer Sportveranstaltung 20.000 oder 40.000 MenschenUstascha-Lieder. Wir haben leidergesehen, dass in der heutigen Zeitdie Geschichte aus dem ZweitenWeltkrieg relativiert und verharmlost und das Ustaschatumsalonfähig gemacht wird. In Kroatien werden auch zweisprachigeOrtstafeln zerstört – ein EU-LandBalkanroute: Im Vorjahr warSerbien Zwischenstationauf dem Weg nach Mitteleuropadürfte aber nicht zulassen, dassdie Rechte der serbischen Minderheit missachtet werden.Fürchtet man in Belgrad, dassBrüssel Druck ausüben wird, dassSerbien als Preis für die EU-Mitgliedschaft die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen muss?Bradic: Offiziell hat man unsdiese Bedingung nicht gestelltund auch fünf EU-Staaten habenden Kosovo nicht anerkannt – warum sollten wir dann das tun?Serbien kann nicht, will nichtund wird nicht den Kosovo alsunabhängigen Staat anerkennen.Der Kosovo ist unser Territoriumund wir wollen eine Normalisierung der Beziehungen, damit dieMenschen im Kosovo, die Serben,34ZUR ZEIT 18/2016aber auch die Mitglieder andererVolksgruppen, auch die Albaner,normal leben können.Ist das derzeit schon der Fall?Bradic: Leider nicht. JedeWoche gibt es Zwischenfälle– manchmal sind das kriminelleHandlungen, aber meistens sinddie Taten ethnisch motiviert.Nach dem NATO-Bombardements1999 wurden etwa 220.000 Serben,Montenegriner, Roma und anderenicht-Albaner aus Kosovo vertrieben. Allein während des Pogromsin März 2004 wurden 19 Menschen getötet und 950 verwundet,einschließlich 100 internationalePolizisten und KFOR-Soldaten.Rund 4.000 Serben wurden inzwei Tagen vertrieben, 35 Kirchenzerstört und 935 serbische Häuserverbrannt. Auch heute werdenimmer wieder sogar die Friedhöfe geschändet. Es ist eine traurigeTatsache, dass Politiker des Kosovo gerne über Demokratie undMenschenrechte sprechen, diePraxis aber anders ausschaut.Wie will Belgrad langfristig dieBeziehungen zur NATO gestalten?Bradic: Serbien ist ein neutrales Land und will zu keinemMilitärbündnis gehören. Mit derNATO gibt es eine Zusammenarbeit im Rahmen des Partnerschaftfür-Frieden-Programms und dieseArt der Zusammenarbeit ist völligausreichend. Unser strategischesZiel ist der EU-Beitritt, aber eineNATO-Mitgliedschaft steht nichtzur Debatte.eine strategische Partnerschaftmit China. Wirtschaftlich finden70 Prozent unseres Warenaustausches mit der EU statt, aber da Serbien in den 90er Jahren schlechteErfahrungen mit Sanktionen gemacht hatte und wenn man bedenkt, dass die Sanktionen gegenKuba oder gegen den Iran nur dieeinfachen Menschen getroffenhaben, sind wir prinzipiell gegenSanktionen. Wir sähen es gerne,wenn die EU die Sanktionen gegen Russland in absehbarer Zeitwieder aufhebt.2015 war Serbien von der Flüchtlingskrise stark betroffen. Fürchtetman, dass sich die Ereignisse heuerwiederholen könnten, falls die Balkanroute wieder geöffnet wird?Bradic: Wir verfolgen natürlichdie Ereignisse sehr aufmerksam.Wir wissen auch von den Befürchtungen, dass die Balkanroute oderandere Routen verstärkt genütztwerden, wenn das Wetter wiederbesser wird. Wir hoffen daher,dass das Abkommen zwischender Türkei und der EU funktionieren wird, wir hoffen auch, dass dieWurzeln des Problems beseitigtwerden, also, dass der Krieg in Syrien beendet wird.Wir arbeiten in dieser Frageeng mit der EU zusammen, habensehr gute Beziehungen zu Österreich, aber auch zu unseren Nachbarstaaten Mazedonien und Kroatien. Mit Kroatien funktioniertdie polizeiliche Zusammenarbeittrotz der Blockade bei den EUBeitrittsverhandlungenWir hoffen, dass die EU in dersehr gut. Wir hoffen,Flüchtlingskrise eine gemeindass die EU eine gemeinsame Lösung findensame Lösung nden wird.wird, und wir werdenSerbien hat traditionell sehr gute diese Lösung unterstützen. UnserBeziehungen zu Russland: Wie sieht Premierminister Vucic hat sichman in Belgrad die EU-Sanktionen?auch bereit erklärt, eine QuoteBradic: Serbien bemüht sich, von Flüchtlingen aufzunehmen,eine ausgewogene Politik zu be- obwohl wir kein EU-Mitglied sind.trieben. D. h., Zusammenarbeit Damit wollen wir ein Zeichen dermit der EU, aber auch mit Russ- Solidarität zeigen.land, zu dem wir durch GeschichDas Gespräch führte Bernhard Tomaschitz.te und Orthodoxie eine starke Goran Bradic ist stellvertretender MissionschefBindung haben, und wir haben der Botschaft der Republik Serbien.

worteten einen solchen Schritt, auch Bosnien und Herzegowina Einfluss in Serbien“. Darin wirdund der Rest war unentschlossen. – im Mai 2014 von einer verhee- Moskau unter anderem eine „öfIm Gegensatz dazu gaben 55 Pro- renden Hochwasserkatastrophe fentliche Diplomatie mit einerzent der Wählerschaft der „tra- heimgesucht wurde, waren rus- klaren panslawischen Rhetorik“ditionellen Verbundenheit mit sische Hilfskräfte als erste in den vorgeworfen, die bei der BevölRussland“ dem Vorzug, während betroffenen Gebieten. Hinzu kerung, nicht zuletzt wegen dernur 19 Prozent dagegen waren.kommen gewaltige Investitionen eindeutigen Haltung in der KosoNicht vergessen haben viele in die marode serbische Wirt- vo-Frage, auf große ZustimmungSerben auch die Rolle der NATO schaft und Infrastruktur. Die stoße. Und der einflussreiche bunals militärischer Arm bei der russische Eisenbahngesellschaft desdeutsche EU-ParlamentarierLoslösung der mehrheitlich von erneuert in Serbien um eine Drei- Elmar Brok meint zu wissen, PuAlbanern bewohnten Provinz viertelmilliarde Euro 350 Kilome- tin verfolge das Ziel, „so viel DruckKosovo. So rief im April Sergey ter Eisenbahnstrecke. Der russi- auf die Balkanstaaten auszuüben,Belous in der „Oriental Review“ sche Erdölkonzern Lukoil besitzt dass sie entweder von einer EUin Erinnerung, dass nachdem 79,5 Prozent der serbischen Tank- Mitgliedschaft Abstand nehmendie NATO in den Kosovo gekommen war, Schätzungen zufolge210.000 Menschen – die meistenvon ihnen Serben – vertriebenwurden. Aber das war noch nichtalles: „Während der schändlichenGewaltwelle, die sich zwischen17. und 19. März 2004 ereignete,haben NATO-Vertreter mit ihrerUntätigkeit albanischen Extremisten erlaubt, mehr als 900 serbische Häuser niederzubrennenoder anzuzünden und 35 orthodoxe Klöster (viele gegen zurückaufs 14., 15. oder 16. Jahrhundertund manche stehen sogar unterBeitritt kein Thema: Anti-NATO-Kundgebung in der Hauptstadt BelgradUNESCO-Schutz) zu schänden,während gleichzeitig 4.000 Serbenaus der Region vertrieben wurden. stellenkette Beopetrol, und der oder, wenn sie einmal MitgliedMit anderen Worten: Die NATO Erdgaskonzern Gazprom hält die geworden sind, Entscheidungenwar nicht fähig und offenkundig Mehrheit am größten serbischen der EU auf eine prorussische Artauch nicht willens, die Kosovo- Erdgasunternehmen. Investitio- und Weise beeinflussen“.Serben zu schützen.nen ähnlichen Ausmaßes tätigtUnschuldig daran, dass sichDennoch geht Belgrad auf die übrigens auch China, das über Serbien – im Gegensatz zu manNATO zu. Am 12. Februar un- den Balkan seinen Einfluss in Eur- chem früheren Ostblockstaatterzeichnete Präsident Tomislav opa vergrößern will.– Russland zuwendet, ist derNikolic das von der NationalverRusslands Aktivitäten am Bal- Westen freilich nicht. So hältsammlung ratifizierte Abkommen kan, insbesondere in Serbien, das Arbeitspapier des russischenüber einen „IndividuelAußenministeriums fest, dasslen Partnerschafts-Ak- Russland eilte Serbien bei derrussische Investitionen die Zutionsplan“ (IPAP) mit Hochwasserkatastrophe 2014kunftsaussichten in jenen Regidem Nordatlantikpakt, als erstes Land zu Hilfe.on verbessern, die 1999 von denworauf es zu MassenBombardierungen der NATOprotesten kam. Partnerschafts- dem Schlüsselland in der Region, besonders betroffen waren. DassAktionspläne gelten als wichtige werden im Westen mit großem westliche Länder hingegen vorVorstufe zu einem NATO-Beitritt. Argwohn beobachtet. Vor rund rangig in Unternehmen investieMoskau versucht, die westli- anderthalb Jahren zitierte das ren, wird als Fehler betrachtet: „Inche Versuche, die NATO auf den Nachrichtenmagazin „Der Spie- dieser Region, die traditionell mitBalkan hin ausdehnen, mit dem gel“ aus einem geheimen Papier Russland verbunden ist, könnenEinsatz „weicher Macht“ zu ver- des deutschen Außenministeri- wir uns nicht auf Investitionen ineiteln. Nachdem Serbien – aber ums mit dem Titel „Russlands Unternehmen beschränken. Wir18/2016 ZUR ZEIT35Bild: rs.n1info.comTHEMA DER WOCHE

THEMA DER WOCHEVON MATTHIAS HELLNERZone der InstabilitätDass jene Region in Südosteuropa,die schlicht als Balkan bezeichnetwird, ein Pulverfass darstellt, istgemeinhin bekannt. Schon immer trafen in dieser Region dieunterschiedlichsten Interessenund Einflusssphären aufeinander.Suchte früher Russland mit Hilfedes Panslawismus und unter demVorwand, Hüter der slawischenBrüder und der Orthodoxie zusein, etwa über ein Großbulgarienund gegen das Osmanische Reichsich Zugang zum Mittelmeer oderzu den Dardanellen zu erstreiten,oder deutsche Fürstenhäuser ihreüberzähligen Sprösslinge mit einem Thron in jener Region Europas zu versorgen, sind heutzutagedie handelnden Akteure auf denersten Blick andere, die Bruchlinien innerhalb der Region jedochnahezu die gleichen. Vielmehrnoch haben sich einige Konfliktedeutlich verschärft. Galt es früher, für die Autonomie und gegendie Herrschaft der Osmanen zukämpfen, sind nach dem Wegfalldieser Feinde oder auch Beschützer, die ethnischen Konfliktestärker denn je, garniert mit demKonflikt um die Religion.Nach dem Ende der Volksrepublik Jugoslawien und dem endgültigen Zerfall des Ostblockesbrachen die alten Konflikte wieder auf. Einzig Mazedonien konn-te sich ohne wesentliche kriegerische Auseinandersetzungen 1991aus dem sich auflösendem Vielvölkerstaat herauslösen. Dochvon Konflikten wurde es auchnicht verschont. Dies offenbarte sich zehn Jahre später, in denAnfängen der 2000er Jahre, als eszu separatistischen albanischenAufständen kam, die erst mitHilfe der NATO befriedet werdenkonnten. Trotzdem gibt es aberauch heute noch erhebliche Spannungen zwischen der zumeistchristlichen slawischen und dergrößtenteils muslimischen albanischen Bevölkerung.Auch Serbien, die größte derehemaligen Teilrepubliken, waran den Konflikten beteiligt. Einerseits durch die Unterstützung derSerben in Kroatien und Bosnien,hier vor allem gegen die bosnischen Muslime, und gleichzeitigdurch die Unruhen im Kosovo,wo die terroristische UCK, mitUnterstützung und Waffen ausAlbanien, die Abspaltung anstreb-müssen Geld für die Infrastrukturund für Menschen dort ausgeben,die Russland als Alternative zumWesten sehen.“Hinter den Kulissen wird aber,wie der „Spiegel“ berichtete, großer Druck auf serbische Politiker ausgeübt, wenn es um dasVerhältnis Belgrads zu Moskaugeht. Nachdem Russland danachstrebte, für ein in der serbischenStadt Nis errichtetes Katastrophenschutzzentrum exterritorialen Status zu erlangen, griff Bun-deskanzlerin Angela Merkel zumTelefonhörer und forderte ihrenserbischen Amtskollegen Aleksandar Vucic auf, das Abkommennicht zu unterzeichnen. „Berlinwar beunruhigt, dass sich das Zentrum zu einem russischen Spionagezentrum entwickeln könnte“.schrieb der „Spiegel“.Dem Westen, also den USAund ihren europäischen Vasallen,geht aber um viel mehr als nurum die Verhinderung möglicherSpionagezentren oder um eineHaltungsänderung der traditionell russophil eingestellten serbischen Bevölkerung. Serbien mussaufgrund seiner geographischenLage unwiderruflich dem westlichen Lager angegliedert werden.Alex Gorka von der MoskauerDenkfabrik Strategic CultureFoundation führt dazu aus: „Fürdie NATO ist Serbien ein wichtiger Korridor zum SchwarzenMeer sowie zum Nahen Osten. Esist einfacher, Verstärkung nachSyrien oder in die Ukraine über36ZUR ZEIT 18/2016Bild: hr.n1info.comDer Balkan bleibt Europas SorgenkindPro-albanische Kundgebung im Presevo-Tal in Südserbien

THEMA DER WOCHEhätte der „Balkanstrom“ als Verlängerung von „Turkish Stream“,einer Erdgasleitung von Russlandin die Türkei, gedient. Allerdingswurden die Planungen zum „Türkischen Strom“, der ebenso wie„South Stream“ die Bedeutung derUkraine als Transitland für russisches Erdgas nach Europa hätteerheblich schwächen sollen, imvergangenen Herbst wegen derwachsenden russisch-türkischenSpannungen auf Eis gelegt.Allerdings könnte sich die politische Großwetterlage wiederändern und damit der „Balkanstrom“ wieder auf die Tagesordnung kommen. „Es besteht eineechte Chance, dass Balkan Streamwieder aus der Schublade geholtwird und dem Projekt eines Tagesgestattet wird, voranzuschreiten“,schrieb im November der russische Journalist Andrew Korybkoin der „Oriental Review“.Jedenfalls fanden im Juni desVorjahres bereits Gespräche zwischen Gazprom und der serbischen Regierung über den „Balkanstrom“ statt. Und damit verstießBelgrad gegen die Anordnungenaus Washington. Denn die Internet-Nachrichtenseite „Balkan Insight“ schrieb damals: „Die USAund Deutschland wollen, dassSerbien seine Energieabhängigkeit von Russland, das derzeit seineinziger Lieferant ist, beendet.“Und im Oktober 2o14, als Serbienmit Russland über eine Verlängerung von „South Stream“ verhandelte, stellte Janez Kopac, derVerlängerung der „South Stream“- Leiter der Europäischen EnergieErdgasleitung von der russischen gemeinschaft, einer internationaSchwarzmeerküste nach Bulgari- len Organisation, welcher die EU,en sein, um den wichtigen Ener- Balkanstaaten wie Serbien oderAlbanien,aberSerbien ist ein potentiellesauch die UkraineTransitland für Erdgas in Nord-Süd- angehören, Belgrad die Rute insRichtung nach Mitteleuropa.Fenster: „Es solltegieträger dann nach Mitteleuro- von Anfang klar sein, dass Serbienpa weiterzuleiten. Nachdem sich nicht der EU beitreten kann, ohneBulgarien aufgrund des Drucks dieses Abkommen (über Southder EU-Kommission von „South Stream) in Einklang mit EU-RechtStream“ zurückgezogen hatte, zu bringen.“ Bild: ickr/Martin JuenBild: 02varvara.wordpress.comte. Schließlich machte der We- gibt eine starke Bewegung fürsten Serbien für die Eskalation einen Anschluss an den Kosovo.des Konflikts verEin zweites, vorantwortlich undallem auch sozimischte sich ein.ales Pulverfass istDieSchützender mehrheitlichhilfe der NATOvon Muslimensorgte schließlichbewohnte,bitdafür, dass sichterarme Sandzakder Kosovo 2008an der Grenze zufür unabhängigMontenegro.erklärte.ZwarEbenso instaversuchte auchbil ist die Lage imdie EU zu vermitserbisch domiteln, aber Serbiennierten NordkoKulturbarbarei: Zerstörteerkennt bis heutesovo. Dort schweserbisch-orthodoxe Kirchedie Abspaltunglen die Konflikteim Kosovoseiner Exprovinzethnischer undnicht an, ebenso wie 83 von 193 auch religiöser Natur – wobeiUN-Staaten.sich beides in den meisten FälAllerdings zeigte sich, dass len nicht trennen lässt – weiter.mit dem Eingreifen der NATO Jeder denkt noch an die Pogromeund des Westens, wie schon in gegen Serben 2004 und in denden ehemaligen Kolonialgebie- Wochen nach der Ausrufungten, die Probleme in der Region der Republik Kosovo, bei denenTausende verletzt undEin Pulverfass ist auch dervertrieben wurden.Vor allem kam es zumehrheitlich von MoslemsgezieltenAngriffen aufbewohnte Sandzak.serbisch-orthodoxe Kulmit oktroyierten Grenzziehun- turgüter: Bis Oktober 2015 warengen keineswegs behoben, son- davon 236 Kirchen, Klöster unddern eher verschlimmert wur- andere Gebäude im Eigentumden. Instabil bleibt die Lage im der serbisch-orthodoxen Kirche,südserbischen Presevo-Tal. Die einschließlich kulturhistorischAlbaner, die dort die Mehrheit bedeutsamerBaudenkmäler,der Bevölkerung bilden, fühlen betroffen. Es wird also versucht,sich von Belgrad als Menschen die christlich-orthodoxe Kulturzweiter Klasse behandelt, es auszulöschen. serbisches Territorium oder durchserbischen Luftraum zu schicken.Vielleicht begrüßen die USA deshalb den Bau einer Autobahn, dieNis (Zentralserbien), Pristina (Kosovo) und Durres (Albanien) miteinander verbindet.“Wenig bekannt ist auch die Bedeutung Serbiens als potentiellesTransitland für Energie. Konkretgeht es dabei um „Balkan Stream“(„Balkanstrom“), das Projekt zumBau einer Erdgasleitung. Der „Balkanstrom“ sollte dabei zuerst die18/2016 ZUR ZEIT37

meine Hoffnungen auch auf die Staaten des Westbalkans, dass sie, wie die Visegrad-Staaten, ein zukünftiger Partner gegen EU-Zentralismus, Meinungs- und Zuwanderungsdiktat der Brüsseler Nomenklatura sind, Partner für ein Europa der Vaterländer, das die jeweiligen Tradition